„Freundlich, lieb, zurückhaltend, zuvorkommend, ordentlich, anständig, stinknormal.“ Über seinen Mandanten Carsten D. weiß der Dresdner Strafverteidiger Stefan Heinemann nur das Beste zu berichten. Dazu zählt auch, dass Polizisten auf dem Computer des 33-Jährigen „kein einziges Kinderpornobild“ gefunden hätten.

Alles andere als harmlos
Das mag sogar stimmen. So harmlos, wie sein Anwalt ihn beschreibt, ist Carsten D. freilich nicht. Ab Dienstag muss er sich vor dem Landgericht Dresden verantworten wegen schweren sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung zweier Mädchen im Alter von neun und elf Jahren.
Dass er überhaupt angeklagt wurde, ist der Hartnäckigkeit der Strafverfolger zu verdanken. Nachdem alle anderen Ermittlungsansätze gescheitert waren, bliesen sie zur aufwändigsten DNA-Fahndung der Kriminalgeschichte. Kosten: 280 000 Euro. Auf der Liste standen zunächst Namen von 127 751 Männern. Das Untersuchungsgebiet erstreckte sich über 27 Meldebezirke und reichte bis an die Grenze Brandenburgs.
Es hätte Jahre gedauert, sämtliche Männer zu überprüfen. Also siebten die Beamten im Stil einer Rasterfahndung jene Kandidaten aus, die als Täter eher nicht in Frage kamen. Am Ende gaben 20 000 Männer Speichelproben ab – auch Carsten D., ein schlanker, athletischer Mann von einsfünfundsiebzig und durchschnittlicher Intelligenz. Aufgewachsen in der DDR, Abschluss 10. Klasse, Lehre als Straßenbauer und Steinsetzer, Hobbyfußballer, Sternzeichen Löwe. Zuletzt arbeitete er als Lkw-Fahrer.

Kinder von der Straße gefangen
Rückblick: Dresden, 6. September 2005, 16 Uhr. Carsten D. fährt seit einer halben Stunde mit seinem Suzuki Baleno durch den Stadtteil Hellerau. Er sieht ein Mädchen. Die Neunjährige kommt aus dem Hort. Carsten D. folgt ihr, packt sie, hält ihr den Mund zu und wirft sie auf die Rückbank seines Autos. „Sei ruhig!“, befiehlt er.
Die Fahrt dauert 40 Minuten und endet nach 21 Kilometern – in einem Wald. Dort missbraucht der Mann das Mädchen im Fond seines Wagens. Anschließend fährt er sein Opfer zurück nach Dresden. Carsten D. erklärt der Schülerin, wie sie am schnellsten in jene Straße findet, in der er sie vor gut zwei Stunden entführt hatte. Er zeigt ihr einen Schleichweg. Am Ende drückt er dem schwer verletzten Kind drei Euro in die Hand und befiehlt ihm, niemandem etwas über das Geschehene zu erzählen.
Opfer mit dem Tode bedroht
Vier Monate später. Am 10. Januar 2006 radelt ein Mädchen gegen 18 Uhr von der Tanzschule nach Hause. Das elterliche Haus in Coswig ist fast in Sichtweite, doch die Elfjährige erreicht es nicht. Von hinten überfällt sie ein Mann, hält ihr den Mund zu und drückt einen Schraubendreher an ihren Hals. Carsten D. zerrt das Kind ins Auto, einen dunkelblauen Daewoo Espero. Falls sie sich wehren sollte, werde er sie umbringen, droht er der Kleinen. Diesmal dauert die Fahrt 55 Minuten. Bis in den Wald, in dem er das Kind missbraucht, sind es 38 Kilometer. Wie schon beim ersten Mal bringt er das Opfer zurück zum Entführungsort. Auf einem Baumarkt-Parkplatz setzt er es aus.
Angst, Hysterie und viele kalte Spuren
Spätestens nach der zweiten Entführung wussten die Dresdner, ein Sextäter ist unter ihnen. Ein skrupelloser Mann, der Mädchen fängt. Am helllichten Tag. Als einen Tag später auch noch die 13-jährige Stephanie spurlos vom Schulweg verschwand, schlug die latente Sorge vieler Eltern in Angst und Hysterie um.
Und die Polizei? Im Fall Stephanie stümperten die Beamten wochenlang ergebnislos vor sich hin. Bei den anderen Mädchen gab es Hoffnung: Aufgrund der DNA-Spuren war klar, dass es sich um ein und denselben Täter handelte. Die Fahnder kannten Form und Farbe des ersten Tatautos sowie ein Fragment des Kennzeichens. Täterbeschreibungen der Mädchen ließen zwar auf Alter und Statur schließen und gereichten sogar zur Erstellung von Phantombildern. Dennoch bleib der Mann unerkannt.
Mehr als 2000 Hinweise aus der Bevölkerung führten ins Leere. Auch die Profiler kamen nicht entscheidend voran. Viel mehr, als dass der Täter einen engen Bezug zu Dresden haben muss und vermutlich ein sozial angepasstes, unauffälliges Leben führt, konnten sie den Tatumständen nicht entnehmen.
Ein Rest Hoffnung blieb. Am 19. Mai 2006 startete die sächsische Polizei eine Gen-Fahndung ohne Beispiel. Theoretisch kamen fast 130 000 Männer als Täter in Frage. Noch während Tausende Kandidaten Speichelproben abgaben, stellten die Beamten ihr Suchraster immer feiner. Schließlich trafen wesentliche Kriterien (früherer Wohnort, Autokennzeichen ...) nur noch auf zwei Männer zu. Einer von ihnen wies keine Ähnlichkeit mit den Phantombildern auf – und war aus dem Rennen.
Übrig blieb Carsten D., ein weitgehend unbescholtener Mann. In der Sexualstraftäterdatei des Bundeskriminalamtes war er nicht registriert, die sächsische Polizei hatte ihn nur ein einziges Mal auf dem Radar – wegen eines Verkehrsdelikts. Carsten D. hätte am 31. Mai zum Speicheltest gemusst, die schriftliche Einladung lag bereits im Postverteiler des Landeskriminalamtes. Nach der Rasterung schien es sinnvoll, sich den Mann früher vorzuknöpfen.
Banales Ende einer spektakulären Jagd
Am Morgen des 21. Mai 2008 ruft ein LKA-Beamter Carsten D. auf dem Handy an. Der ist mit seinem Lkw auf der A 13 Berlin-Dresden unterwegs, hat aber gegen ein Gespräch nichts einzuwenden. Gegen 9 Uhr treffen sich die beiden auf einem Parkplatz an der Autobahnabfahrt Thiendorf. Carsten D. fragt: „Wie sind Sie auf mich gekommen?“ Und will wissen: „Werden die Daten nach der Untersuchung gelöscht?“ Dann unterschreibt er das Einwilligungsformular und lässt sich zwei Wattestäbchen in den Mund schieben. Auf den Polizisten wirkt er ruhig, keine Spur von Nervosität.
Vier Wochen vergehen. Am 17. Juni meldet sich das bayerische Institut, das die DNA-Muster aus Dresden untersucht, beim LKA. Es geht um die Probe mit der Code-Nummer 10010571. Sie stammt von Carsten D. – und ist ein Volltreffer! 33 Monate nachdem sie die Jagd auf das Sex-Phantom eröffnet hatten, nehmen Polizisten den Verdächtigen in seiner sanierten Plattenbauwohnung fest. Er gesteht sofort.
Im Gefängnis wird er Vater
Laut Anklage hatte D. seine Opfer nicht gezielt ausgespäht oder – wie Stephanie-Entführer Mario Mederake – wochenlang beobachtet. Auch hatte er seine Tatautos nicht präpariert, falsche Kennzeichen verwendet oder eine Maske getragen. Spontan waren die Taten dennoch nicht. Oberstaatsanwalt Christian Avenarius: „Noch während der Fahrten hätte er von seinem Plan abrücken können, die Mädchen zu missbrauchen.“
Mit den meisten Annahmen lagen die Profiler richtig. Aus dem Umstand, dass der Täter die Mädchen am Ende des Martyriums „beruhigte“ und ihnen den Weg nach Hause wies, schlossen sie: Der Mann hat möglicherweise einen Bezug zu Kindern. Tatsächlich wird Carsten D. in Kürze Vater. Kind und Freundin dürfte er mittelfristig eher selten zu Gesicht bekommen. Ihm drohen 15 Jahre Haft.
Letzter Ausweg: DNA-Massentest
Quelle: focus.de
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